Michael Bies
Im Spielraum der Natur:
Einfälle von Wissenschaftlern


In seiner 1917 gehaltenen Rede Wissenschaft als Beruf erklärt Max Weber, dass die „‚Eingebung’“ des Wissenschaftlers zwar sowohl auf „Leidenschaft“ als auch auf „Arbeit“ beruhe, sich aber trotzdem nicht erzwingen lasse: „Der Einfall ersetzt nicht die Arbeit. Und die Arbeit ihrerseits kann den Einfall nicht ersetzen oder erzwingen, so wenig wie die Leidenschaft es tut. Beide – vor allem: beide zusammen – locken ihn.“ Weiterhin führt Weber aus, dass der Einfall „kommt, wenn es ihm, nicht wenn es uns beliebt“, und erklärt:

  Es ist in der Tat richtig, daß die besten Dinge einem so, wie Ihering es schildert: bei der Zigarette auf dem Kanapee, oder wie Helmholtz mit
  naturwissenschaftlicher Genauigkeit für sich angibt: beim Spazierengehen auf langsam steigender Straße, oder ähnlich, jedenfalls aber dann,
  wenn man sie nicht erwartet, einfallen, und nicht während des Grübelns und Suchens am Schreibtisch. Sie wären einem nur freilich nicht
  eingefallen, wenn man jenes Grübeln am Schreibtisch und wenn man das leidenschaftliche Fragen nicht hinter sich gehabt hätte. Wie dem
  aber sei: – diesen Hasard, der bei jeder wissenschaftlichen Arbeit mit unterläuft: kommt die ‚Eingebung’ oder nicht? – auch den muß der
  wissenschaftliche Arbeiter in Kauf nehmen.1


Weber betont hier vor allem zwei Charakteristika des wissenschaftlichen ‚Einfalls’, die auch in meinem Forschungsprojekt zum Thema „Im Spielraum der Natur: Einfälle von Wissenschaftlern“ eine maßgebliche Rolle spielen. Zum einen situiert er den ‚Einfall’ in einem Zwischenzustand von Notwendigkeit und Zufall, in einem Zustand, der sowohl durch Planung als auch durch Offenheit und Ungewissheit charakterisiert ist: Zwar müsse der Einfall vorbereitet werden, doch komme er erst, wenn man ihn nicht erwarte. Zum anderen rückt Weber die Rahmungen und Kontexte, die Bedingungen und die Bedingtheit der wissenschaftlichen Einfälle in Blick, wenn er auf die „Zigarette auf dem Kanapee“ und das „Spazierengehen auf langsam steigender Straße“ verweist. Doch soll in diesem Zusammenhang nicht nur die diskursive Modellierung wissenschaftlicher Einfälle im Rahmen solcher ebenso ‚männlich’ wie ‚bürgerlich’ konnotierten ‚Einfallsszenarien’ betrachtet werden. Zu untersuchen ist zudem, inwiefern auch Laborapparaturen gleichsam als ‚Ideenmaschinen’ beschrieben, inwiefern auch ihnen die zufälligen und unkalkulierbaren Bedingungen zuerkannt werden, die dem Wissenschaftler eine plötzliche ‚Eingebung’, einen präzisen ‚Einfall’ verschaffen.

  Die damit skizzierte Verortung des ‚Einfalls’ zwischen Zufall und Methode, Subjekt und Objekt soll innerhalb des wissenschaftlichen Netzwerks „Improvisation und Invention: Findkünste, Einfallstechniken, Ideenmaschinen“ vor allem für das 19. Jahrhundert präzisiert und vertieft werden. Wenn dafür der diskursiven Modellierung und Rekonstruktion wissenschaftlicher ‚Einfälle’ sowohl in fiktionalen als auch in nicht–fiktionalen Texten nachgegangen wird, stehen besonders zwei Fragen im Mittelpunkt: So soll zum einen gefragt werden, ob wissenschaftliche und künstlerische Einfälle sich auch für das 19. Jahrhundert noch analog konzeptualisieren und in einer einheitlichen facultas fingendi begründen lassen; zum anderen aber soll untersucht werden, inwiefern Literatur bestimmte Elemente und Techniken, Situationen und Rahmungen wissenschaftlicher Einfälle beschreibt und reflektiert, die sich theoretisch nur schwer oder gar nicht modellieren lassen: inwiefern – und mit welchen Konsequenzen – sie gerade die Zufälligkeiten in den Blick rückt, die Wissenschaftler in ihren Beschreibungen eher unterdrücken müssen.

1 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Hrsg. v. Friedrich Tenbruck, Stuttgart 2005, S. 13f.