Ulrike Hagel
Ausfällungen von Einfällen
Georg Christoph Lichtenberg


    Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab; wo ist die Grenze?
    Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu
    sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis. (K 76)1


Wie kann man diese Gedankenblitze einfangen? Der Forscher und Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) hat versucht, sie neben Exzerpten, Beobachtungen und sonstigen Betrachtungen zu alltäglichen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Themen in seinen ‚Sudelbüchern‘ zu sammeln. Hier versucht er sich selbst auf seinen Gedankengängen ein Bein zu stellen, um zu neuen Einblicken zu gelangen („Man muß etwas Neues machen um etwas Neues zu sehen“; J 1770), neue Dinge zu (er)finden („Einen Finder zu erfinden für alle Dinge“; J 1621), neue Zusammenhänge zu sehen (mittels Witz, Scharfsinn, cross reading), neue Methoden zu erarbeiten („Latent werden, fortleiten, sensibel werden sind Begriffe, die einmal im allgemeinsten Verstande betrachtet zu werden verdienten.“ K 329), kurz: „Neue Irrtümer zu erfinden.“ (L 886)

  Da der Geistesblitz ein nur nachträglich zu beobachtendes und im eigentlichen Sinne unverfügbares Natur(?)–Ereignis ist, versucht Lichtenberg, ihn sozusagen ‚unter Laborbedingungen‛ künstlich hervorzurufen und anschließend in seine Bestandteile ‚auszufällen‘. Anhand des im Göttinger Taschen Calender 1794 publizierten Aufsatzdoppels „Nachricht von einer Walrat–Fabrik“ + „Einige Betrachtungen über vorstehenden Aufsatz, nebst einem Traum“ sollen die Ausfällungen eines Einfalls bei Lichtenberg nachgezeichnet werden: 1. Aufnahme von Zufallsfunden (Lesefrüchte), 2. Notate in den Sudelbüchern, 3. Bearbeitung eines Einfalls auf a) naturwissenschaftlichem (‚Nachricht‘) und b) literarischem Wege (‚Traum‘), 4. Brechungen innerhalb der naturwissenschaftlichen und der fingierten Traumperspektive.

Einordnung des Projektes: Lichtenbergs Einfälle sind gleichermaßen aufgeschriebene wie erschriebene. Aufschlussreich ist sein produktiver Umgang mit der ‚Zettelwirtschaft‘: die Auswertung und Umsetzung unter Zuhilfenahme von Kriterien wie Vergrößerung, Verkleinerung, Scharfsinn, Witz, paradigmatisches Lesen, Doppelung, Analogie, Kontrastierung etc., der Einsatz von ‚Prothesen‘ und ‚externen Festplatten‘ (Schriftlichkeit des Denkens) und ‚random‘–Verfahren (Lesetechniken wie das Querbeetlesen als papierne Zusammenschau) als Interaktion mit dem schriftlichen Material.

  Die Materialität des Einfalls – als aufgeschriebener und (wieder) zu lesender – wirkt ein auf seine Umsetzung im wissenschaftlichen Experiment; oft ist das Notat das eigentliche Experiment. Wie in meinen Studien zur Materialität des Lese– und Schreibprozesses sowie zu den Auszügen bei Jean Paul und zur Materialität der Kommunikation bei James Krüss werde ich hierauf ein besonderes Augenmerk richten (geplanter Umfang: ca. 25 Seiten).

 

1 Ich zitiere nach: Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1968.