Nina Hahne
Dialogizität und Invention im Essayismus des langen 18. Jahrhunderts
Die Dialogizität des literarischen Textes als Mittel der Erfindung und Vermittlung von Wahrheiten nimmt im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle ein.1 Gerade auch im deutschsprachigen Essayismus tritt sie in unterschiedlichen Funktionalisierungen in Erscheinung. Aufschlussreich ist vor allem die Frage, auf welche Weise sich die Auffassung, Invention sei lediglich das Auffinden von bereits in der Sphäre des Wahren vorhandenen Erkenntnissen, hin zu einer Auffassung verändert, welche Invention als Kreativität, als Entstehen von grundsätzlich Neuem begreift, und wie sich diese Veränderung auf die Struktur des Essayismus auswirkt.
Als Ergänzung meines Dissertationsprojekts soll im Rahmen des Netzwerks das Verhältnis von Dialogizität und Invention im Essayismus vertiefend untersucht werden. Dialogizität kann dabei zum einen als Selbstgespräch zum Zweck der fortschreitenden Selbsterkenntnis verstanden werden, wie es Montaigne in seinem Essay Von der Einsamkeit verlangt, in welchem es heißt: „Nicht darauf sollt ihr mehr sinnen, daß die Welt von euch rede, sondern wie ihr mit euch selbst reden sollt.“2 Zum anderen kann sie die Form eines intendierten Gesprächs mit einem Abwesenden annehmen (auch im Sinne einer Selbsteinordnung in den ‚Hypertext‘ einer wissenschaftlichen Diskussion). Hier äußert sich das Dialogische durch direkte Anrede, Vorwegnahme möglicher Einwände und andere Einschübe aus dem Bereich der mündlichen Kommunikation, die das Gespräch von Angesicht zu Angesicht simulieren. Da der so angeredete Rezipient jedoch stets auch als Fiktion innerhalb des Selbstgesprächs verstanden werden kann, ist der Gesprächscharakter des Essayismus, sofern er durch den Text suggeriert wird, permanent fragwürdig. Diese Tatsache hat in der Forschungsliteratur entsprechend auch zu einer kontroversen Beurteilung der essayistischen Dialogizität geführt.
Heinrich von Kleists Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden ist eines der prominentesten Beispiele für die Verbindung von Einfall und Gespräch um 1800. Zentrale Gedanken dieses Textes finden sich bereits bei einem der Urheber der literarischen Form des Essays, Francis Bacon. So liest man in seinem Essay Über die Freundschaft:
Auch ist dieser zweite Vorteil der Freundschaft, nämlich die Klärung des Verständnisses, nicht lediglich auf solche Freunde beschränkt, die einen
guten Rat zu erteilen imstande sind (obgleich dies natürlich die besten sind), sondern man lernt auch ohne das von selbst, bringt seine eigenen
Gedanken ans Licht und schärft seinen Verstand an einem Stein, der von sich aus nicht schneidet. Mit einem Worte, man sollte sich lieber vor einer
Bildsäule oder einem Gemälde aussprechen, als seine Gedanken in sich ersticken zu lassen.3
Kleists Essay ist zentraler Bezugspunkt der Untersuchung. Er soll zunächst in den programmatischen Kontext der zusammen mit Adam Heinrich Müller 1808 herausgegebenen Zeitschrift Phöbus und des darin entwickelten Dialogkonzepts eingeordnet werden. Weiterhin ist eine Aufarbeitung der zeitgenössischen Reflexion über Findkünste notwendig, in deren Kontext Kleists Text entsteht. Hier kann als Beispiel Carl Friedrich Flögels „Einleitung in die Erfindungskunst“ von 1760 genannt werden, welche besonders auf das Spannungsverhältnis von objektiven Findkünsten (Wissenschaften) und subjektiven Findkünsten (Kunst) hinleitet, welches auch Moses Mendelssohn in einer zeitgenössischen Rezension des Werks zur Debatte stellt.
Folgende Leitfragen lassen sich zunächst formulieren: 1) Mit welchem Begriffsinventar wird die Erfahrung des Einfalls beschrieben? 2) Wie wird das Verhältnis von Idee und Sprache / Versprachlichung vorgestellt, und in welchem Zusammenhang steht diese Darstellung zur Sprachkritik des 18. Jahrhunderts? 3) Kann man in Bezug auf Kleists Essay von einer Didaxe des Einfalls sprechen?
1
Vgl. z.B. Gabriele Vickermann–Ribémont / Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung. Tübingen 2003.
2
Michel de Montaigne: Essais. Auswahl und Übersetzung von Herbert Lüthy. Zürich 1953, S. 270.
3
Francis Bacon: Essays oder praktische und moralische Ratschläge. Übersetzung von Elisabeth Schücking, herausgegeben von Levin L. Schücking, Nachwort von Jürgen Klein. Stuttgart 2005, S. 93f.