Stephan Kammer
Die Erfindung des Erfinders


Der Konflikt zwischen der rhetorischen Tradition und den neuen Po(i)etiken des 18. Jahrhunderts speist sich aus einem Spannungsverhältnis von kalkulierter und kalkulierbarer inventorischer Regelhaftigkeit sowie dem Konzept einer letztlich unberechenbaren Einfallslogik, das sich zuerst und vorrangig in der Literatur, bald in den Künsten überhaupt auszuwirken beginnt. Spätestens mit den neuzeitlichen Mythen des Genies und des Originalen scheint dieser Konflikt beigelegt – und zwar zugunsten der zweiten Partei.

  Doch das neue Feld der Ästhetik ist nicht der einzige Schauplatz, an dem eine Rekonfiguration des Inventorischen stattfindet. An die Stelle rhetorisch geregelter Inventionsverfahren setzt die Encyclopédie in ihrem Artikel zur ‚invention‘ für den Wissenschaftler und Entdecker ganz andere Formen der System(un)gebundenheit: Erfindungen seien der „Zeit, dem puren Zufall, glücklichen und unvorhergesehenen Umständen, einem mechanischen Instinkt, der Beharrlichkeit der Arbeit und deren Ressourcen“ zu verdanken. Diese unberechenbare Mischung zwischen sozialen resp. kulturellen Gelingensbedingungen und technischer Kompetenz, kontingentem Findeglück und fleißig–beflissener Hartnäckigkeit wird noch einige Jahrzehnte lang als Beschreibungsmuster für nicht–ästhetische Inventionen verbindlich bleiben. Die Semantik der ‚Erfindung‘, wie sie seit dem 19. Jahrhundert in (den Diskursen über) Naturwissenschaften und vor allem Technik dominant wird, ist bis 1800 kaum, diejenige des ‚Erfinders‘ so gut wie gar nicht anzutreffen. Noch eine Sammlung wie die weit verbreiteten Beyträge zur Geschichte der Erfindungen des Göttinger Technologie–Pioniers Johann Beckmann (1780-1805) legt – sowohl aufgrund der Heterogenität der in ihr versammelten Befunde als auch in ihrem Arrangement der Gegenstände – nahe, dass sich ein nachrhetorisches Konzept der ‚Erfindung‘ in diesen Wissensbereichen vollkommen getrennt und unabhängig von einer Mythologie personalisierter Heuristik herausgebildet zu haben scheint, wie sie sich in der Ästhetik bereits durchgesetzt hat. Zu fragen gilt es deshalb, wie (und wann) sich dieses Konzept umzustellen beginnt: Wie und wo kommt es zu den biographisch-inventionstechnischen Narrationen des ‚Erfinders‘, die bis hin zur ambivalenten Grenze zum Wahnsinn so getreu den Vorgaben des ästhetischen Genie–Konzepts zu folgen scheinen? Wie ließe sich der Transfer zwischen den Systemen der Ästhetik und der Wissenschaften resp. der Technik angemessen beschreiben? Was sind, neben der Übertragung des Narrativs, die Effekte eines solchen Transfers? Welche Konzeptualisierungen von ‚Erfindung/Erfinder‘ insbesondere geraten bei der – vermuteten – Adaption des ästhetischen Modells für Wissenschaften und Technik ins Abseits oder in die Latenz?