Karin Krauthausen
Paul Valérys Theorie und Praxis der Imagination


Im Zuge der psycho–physiologischen Forschungen des 19. Jahrhundert trifft man gegen Ende des selben Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende in Frankreich auf eine Diskussion der Kreativität und Innovation, die gleichermaßen von Psychologen und Philosophen wie von Wissenschaftlern und Künstlern geführt wird. Dieser Diskurs zeichnet sich dadurch aus, dass zum einen – entgegen der seit dem 18. Jahrhundert sich vollziehenden Ausdifferenzierung der Wissensdisziplinen – die Schaffenskraft mit einem beweglichen Denken identifiziert wird, das eben nicht nach Disziplinen, Wissensgebieten und Künsten geordnet ist. Zum andere wird dieses kreative Denken ‚materialiter‘ begriffen (etwa bei H. Bergson und W. James, aber auch bei dem Künstler P. Valéry, dem Mathematiker H. Poincaré sowie in Deutschland z.B. durch E. Machs Psychologie der Forschung bzw. seinem Begriff des Gedankenexperiments). Materialiter meint hier: Denken wird als psycho–physiologischer Fakt und konkreter Akt konzipiert, aber auch in seiner Bindung an Medien der Aufzeichnung und Artikulation begriffen, seien diese Formeln, Zeichnung, Schrift oder Sprache.

  In den philosophischen Arbeitsheften des Schriftstellers Paul Valéry (1871-1945), die er von 1894 bis zu seinem Tod führte, kommen die um die Jahrhundertwende zirkulierenden unterschiedlichen Positionen zusammen, insofern er sich gleichermaßen mit der Frage nach den künstlerischen Herstellungsprozessen wie mit der Frage nach den innovativen Leistungen in den Wissenschaften wie der Philosophie auseinandersetzt und hierfür eine große Bandbreite an wissenschaftlicher, ästhetischer und philosophischer Literatur rezipiert. Seine Arbeitshefte, die Cahiers, beginnt er dabei vor allem auch, um „my psychology“, d.h. seine Psychologie der Imagination und damit der kreativen Potentiale des Denkens auszuarbeiten. Obwohl seine Forschung idiosynkratisch bleibt und auch nicht in eine wissenschaftliche Abhandlung mündet, lässt sich aus den Cahiers dennoch eine Theorie der Imagination rekonstruieren, die einen subjektlos gedachten mentalen Bilderfluss als Quelle des innovativen Denkens einsetzt (vgl. E. Lobsien) und in der Konsequenz Exerzitien und Verfahren für die optimale Ausschöpfung dieses Vermögens zu entwickeln sucht. Valérys Psychologie der Imagination geht es also darum, den Einfall nicht zum unerklärbaren und spontanen Ereignis zu erklären, sondern epistemische und ästhetische Produktivität über eine kunstvolle Praxis des Denkens (nach dem Vorbild der Mathematik) ‚inszenierbar‘ zu machen.

  Interessant werden Valérys Überlegungen zur Imagination zudem, da sie paradigmatisch für eine Neudefinition des Poiesis–Begriffs stehen. Wie H. R. Jauss für Valérys 1894 enstandenen Essay Introduction à la méthode de Léonard de Vinci gezeigt hat (der nach D. Moutote den „Portikus“ in die Cahiers bildet), wird Poiesis bei Valéry als ergebnisoffener Prozess begriffen, als ‚Test‘ oder ‚Versuch‘, während zeitgleich in den Wissenschaften Erkenntnis und Wissen ebenfalls nicht mehr als Auffinden ewiger Gesetze der Natur konzipierbar sind, sondern auf ein versuchsweises Hervorbringen und Austesten zulaufen. Was Valéry reflektiert, ist demzufolge eine historische Konstellation, in der ‚Wissen‘ stets ‚Machen‘ bzw. ‚Hervorbringen‘ ist und damit von einer künstlerischen Poiesis ununterscheidbar wird, die auf ergebnisoffene Hervorbringungen und bei Valéry zudem: auf die selbstreflexive Beobachtung der Verfahren der Hervorbringung zielt.

  Diese Valérysche Theorie der kreativen Imagination ist im ersten Teil des geplanten Aufsatzes zu resümieren, um ein heute oft vergessenes spezifisches historisches Verständnis von Innovation und Invention um 1900 herauszuarbeiten. Im zweiten Teil des Aufsatzes werde ich diese theoretischen Überlegungen Valérys mit seiner Praxis in den Cahiers vergleichen. Insofern Valéry nicht allein die Psychologie der Imagination in den Blick nimmt, sondern zugleich nach der Bindung des kreativen Denkens an Medien und Verfahren fragt, finden sich in den Cahiers ‚Erprobungen‘ von wissenschaftlichen Darstellungs– und rhetorischen Beweisverfahren sowie Reflexionen zur Eigendynamiken des Schreibens (des eigenen Schreibens in den Heften wie darüber hinaus gehend z.B. des mathematischen Schreibens in Gleichungen) und zu der Rückkopplung dieser Eigendynamik auf die Imagination bzw. das Denken. Hier wird also nicht allein eine Theorie der kreativen Imagination versucht, sondern die Bindung von Innovation und Einfall an Verfahren und Medien konstatiert, um von hier aus zu einem Reglement der Schaffenskraft (nach dem Vorbild der Mathematik) zu gelangen. Dieses Vorhaben Valérys scheitert, und es muss gewissermaßen scheitern: Wenn man Valérys Vorstellung eines subjektlos gedachten mentalen Bilderstroms als Kern des kreativen Vermögens in Betracht zieht und zudem seine Aussagen zur Eigendynamik von Verfahren und mediengebundenen Praktiken berücksichtigt, resultiert daraus eine Poiesis, die nicht durch Willen oder Idee des Subjekts zu beherrschen ist. Das Handelns des Subjekts kann stets nur ein Element innerhalb eines Ensembles aus subjektlosem Bilderstrom, eigendynamischer medialer Praktik, vorgegebenen Konventionen bzw. Rhetoriken und Bewusstsein sein. Bemerkenswert, aber auch folgerichtig ist nun die Konsequenz für Valérys eigene Praxis in den Cahiers. Die Hefte etablieren eine über Routinen und inhaltliche Limitierungen abgesteckte sehr spezielle „Schreibszene“ (im Sinne von R. Campe), die einen aktiven Modus des Denkens im Schreiben und Zeichnen generiert und so ‚Entwerfen‘ bzw. Poiesis als unbeendbares Verfahren performiert. Obwohl Valérys Projekt einer Abhandlung zur Imagination (sowie auch alle späteren Projekte zur Ordnung der Cahiers) zu keinem Abschluss gelangt, bilden die Hefte eine Art Ideenmaschine aus, die durch Ritual und Verfahren optimal auf den mentalen Bilderfluss des Autors Valéry zugreift und so über fünfzig Jahre hinweg und Tag für Tag Einfälle erschreibt und erzeichnet. Valéry konstatiert es 1940 schließlich selbst lakonisch, dass er im Gefüge der Cahiers nur eine „Molluske“ sei, die „eine stationäre Funktion“ erfüllt: „Sekretieren“.