Bernhard Metz
„Parce que la forme est contraignante, l’idée jaillit plus intense.“
Regel– und Formzwang als Innovationsgenerator in literarischen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts


Charles Baudelaire schrieb am 18. Februar 1860 an Armand Fraisse mit Bezug auf Sonette: „Parce que la forme est contraignante, l’idée jaillit plus intense.“ (in: Correspondance, Paris 1973, 676 ). Wenig überraschend bezieht er sich in diesem Brief auch auf Edgar Allan Poes Philosophy of Composition (1846), die Baudelaire 1859 selbst ins Französische übersetzt hatte. Dort wird in Absetzung von Inspirationslehren, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts als Genieästhetiken wieder dominant wurden, zumindest für Poes eigenes Schreiben eine Praxis des literarischen Regelfolgens postuliert, aus der sich das Neue gleichsam von selbst ergibt: „Most writers – poets in especial – prefer having it understood that they compose by a species of fine frenzy – an ecstatic intuition – and would positively shudder at letting the public take a peep behind the scenes […]. In general, suggestions, having arisen pell-mell are pursued and forgotten in a similar manner. For my own part, I have neither sympathy with the repugnance alluded to, nor, at any time, the least difficulty in recalling to mind the progressive steps of any of my compositions […]. I select ‚The Raven‘ as most generally known. It is my design to render it manifest that no one point in its composition is referable either to accident or intuition – that the work proceeded, step by step, to its completion with the precision and rigid consequence of a mathematical problem” (in: The Fall of the House of Usher and Other Writings, Harmondsworth 1986, 481sq.)

  Gleichwohl reklamiert Poe für sein rationales und regelgeleitetes Verfahren ein Höchstmaß an Originalität, Innovation und Kreativität, jedoch unter explizitem Ausschluss konventioneller Inspirations– und Intuitionszuschreibungen: „My first object (as usual) was originality. […] The fact is that originality (unless in minds of very unusual force) is by no means a matter, as some suppose, of impulse or intuition. In general, to be found, it must be elaborately sought, and although a positive merit of the highest class, demands in its attainment less of invention than negation“ (ibid., 487sq.). Auch wenn diesem Werkstattbericht die Stilisierungen seines Autors anzusehen sind, markiert er dennoch eine Perspektive, um jenseits von Dichotomien wie ‚Regel– vs. Genieästhetik‘ die produktiven und innovativen Potentiale von Regeln für die Produktion literarischer Texte aufzuspüren. Davon ausgehend soll es in meinem Projekt um das Paradox gehen, wie in literarischen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts aus Formzwängen Freiheiten entstehen bzw. wie durch freiwillige Formzwänge oder ‚Contraintes‘, um die Terminologie von Oulipo aufzugreifen, Texte entstehen, die kein noch so kreativer Kopf hätte vorhersagen oder sich ausdenken können. Es geht also um den Umschlag von Regeln in nichtkalkulierbar und unvorhersehbar Neues bzw. darum, wie literarische Regeln als Innovationsgeneratoren oder –stimulatoren aufgefasst werden können, was in besonderem Maße die im Umfeld von Oulipo entstandenen Texte zeigen (von Perec, Calvino, Queneau et al.; das Korpus soll aber auch Texte von Poe, Flaubert, Mallarmé, Holz, Walser, Gadda, Schmidt, Manganelli, Christensen und Barth umfassen). Mein Frageinteresse würde ich daneben aber auch historisch gerne weiter nach vorne und sogar bis in die Antike ausweiten, wie es François Le Lionnais im ersten Oulipo–Manifest von 1961 nahelegt: „Toute œuvre littéraire se construit à partir d’une inspiration (c’est du moins ce que son auteur laisse entendre) qui est tenue à s’accommoder tant bien que mal d’une série de contraintes et de procédures qui rentrent les unes dans les autres comme des poupées russes. Contraintes du vocabulaire et de la grammaire, contraintes des règles du roman (division en chapitres, etc.) ou de la tragédie classique (règle des trois unités), contraintes de la versification générale, contraintes des formes fixes (comme dans le cas du rondeau ou du sonnet), etc.“ (in: Oulipo, La littérature potentielle (Créations Re–créations Récreations), Paris 1973, 16).

  Verbindungen dieses Projekts zu den anderen des Netzwerks sind zahlreich; publizierte Vorarbeiten kann ich dazu bislang keine vorweisen, allerdings unterrichte ich im SS 2009 eine Lehrveranstaltung, die sich unter dem Titel „Regeln, Vorgaben, Contraintes: Literatur und Formzwang“ mit dem Thema befasst (cf. http://www.iversity.de/courses/495/description).