Claas Morgenroth
Oswald Wieners Arbeiten zum Begriff der Improvisation
Oswald Wieners Begriff der Improvisation stellt eine Provokation dar, weil er das geläufige Verständnis von „Improvisation“ (vgl. Bailey 1993; Wilson 1999) umkehrt. Wieners Kritik verteilt sich dabei auf zwei Punkte: 1. ‚Gute‘ Improvisation reproduziert eine Sozialisation, ohne die Qualität derselben wiedergeben zu können, d.h. sie versucht etwas spontan hervorzubringen, das vorher mühevoll antrainiert worden ist, beraubt sich aber der Möglichkeit, das Hervorgebrachte zu prüfen, zu überarbeiten oder zu verwerfen. Übrig bleibt stets ein Abklatsch des Möglichen. 2. Das fragwürdige Ergebnis dieser Form von Improvisation wird gedeckt durch einen erklärenden Überbau, der Selbstverwirklichung, Ganzheitlichkeit, Flow und andere vergleichbare Konzepte sakralisiert und damit den Blick auf die Komplexität der Improvisation verstellt. Improvisationen aber seien, so Wiener, nicht Ausdruck von Spontaneität und Kreativität. Im Gegenteil: Gerade weil sie nicht wohlüberlegt, geplant, überarbeitet, differenziert, eben nicht Kompositionen sind, beruhen sie auf einem relativ schmalen Set von konventionalisierten Handlungen und eingeübten Denkweisen.
Improvisation ist demnach eine Praxis, die die idealen, materialen, physio– und psychologischen Produktionsbedingungen des Hervorgebrachten auf sich selber stoßen lässt, um jene Routinen und Klischees sichtbar zu machen, die in der Regel durch den Kraftakt der Überarbeitung und Formung verdeckt werden. Für Wiener unverzichtbar ist daher der Begriff der „Selbstbeobachtung“ (Wiener 1996), weil er jene Wahrnehmungsschleife bezeichnet, die zwischen der Beobachtung der Improvisation und der Improvisation ‚selbst‘ entsteht. Erst durch die Introspektion, der Suche nach einer Lücke im Fortgang der ‚Improvisation‘ genannten Wiederholung von Verhaltensmustern und mechanisierten Abläufen, der Aufdeckung von Zwängen, Grenzen und Fehlern, letztlich der Introspektion der Introspektion, können die Strukturen des Denkens, des ‚Bewusstseins‘, des ‚Ich‘ usf. aufgetan werden. Dafür bedarf es wiederum bestimmter Einfallstechniken, Find– oder Vergessenskünste, um die Improvisation in Gang zu setzen und beobachtbar zu machen (vgl. Wiener 1971, 1998; Roth 1973).
Oswald Wieners Beiträge zum Begriff der Improvisation bilden zusammengefasst einen geeigneten Ausgangspunkt, um den Begriff der Improvisation – unter Berücksichtigung der transdisziplinären Rolle, die er in der Psychologie, Anthropologie und Kybernetik, Musik, bildenden Kunst und Literatur spielt – zu theoretisieren, zu historisieren, zu hinterfragen und zu präzisieren. 1. im Kontext der experimentellen (oder besser improvisierenden?) Literatur der Nachkriegszeit, ihrer Vorläufer und Kontrahenten; 2. in Bezug auf Fortschritts– und Kontingenzkonzepte der Moderne, die Projekt–Ökonomie des Postfordismus oder die Erfindung des „Kreativsubjekts“ (Reckwitz 2006); 3. im Verhältnis zu zentralen Begriffen wie: Anfang, Einfall, Experiment, Form, Geste, Identität/Alterität, Klischee, Kontingenz, Prozess, Repräsentation, Routine, Schema, Spontaneität, Subjekt, Überraschung, Wiederholung oder Zufall.
Literatur
Derek Bailey, Improvisation. Its Nature and Practise in Music (1980), London: Da Capo 1993.
Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006.
Dieter Roth, Frühe Schriften und typische Scheiße, hg., ausgewählt und mit einem Haufen Teilverdautes von Oswald Wiener, Darmstadt: Luchterhand 1973 (= Sammlung Luchterhand 125).
Oswald Wiener, Literarische Aufsätze, Wien: Löcker 1998.
– „‚Klischee‘ als Bedingung intellektueller und ästhetischer Kreativität“, in: Walter Fähndrich (Hg.), Improvisation III, Winterthur: Amadeus 1998, S. 85-101.
– Schriften zur Erkenntnistheorie, Wien: Springer 1996 (= Computerkultur 10).
– Die Verbesserung von Mitteleuropa. Roman (1971), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985.
Peter Niklas Wilson, Hear and Now. Gedanken zur improvisierten Musik, Hofheim: Wolke 1999.