Boris Previšić
Die Festschreibung der Invention und ihre Improvisation als Mimikry:
von Bachs Präludien und Fugen zu einem neuen Begriff der literarischen Fiktionalität


Inhalt des eigenen Projektbeitrags: In Bachs Wohltemperiertem Klavier kulminieren Invention und Improvisation in der jeweiligen Kombination von Präludium und Fuge als doppelte Verschränkung. Im Präludium wird die rhetorische Findungsphase, die inventio, musikalisiert; die Findekunst selber kommt im „stilus phantasticus“ so zur Aufführung, „als spielte man das Präludium aus dem Stegreife daher“. Das bereits Gefundene und Erfundene präsentiert sich so als noch etwas Aufzufindendes in statu nascendi, provoziert ihre hypothetische Als–ob–Struktur und verweist dabei auf ihre lineare Darstellung und Performanz in der Präsenz. Die Improvisation erweist sich so als Mimikry unter Voraussetzung der Fiktionalisierung ihrer Invention. Gerade umgekehrt verhält es sich mit der nachfolgenden Fuge, in welcher im „stilus moteticus“ die rhetorische dispositio zur musikalischen Ausführung gelangt. Die elocutio der Fuge suggeriert, dass ihre thematische Einheit innerhalb einer elaborierten varietas der komplexen polyphonen Struktur gerade nicht improvisiert sein kann, sondern immer schon auf einen Text, auf etwas ‚Komponiertes‘ zurückgreift. Die historische Aufführungspraxis aber belegt gerade das Gegenteil: Oftmals wurden Fugen improvisiert; einen Höhepunkt (und wohl auch Endpunkt) dieser Praxis findet man wiederum beim späteren Bach, im Musikalischen Opfer, dessen Fugen, insbesondere die beiden Ricercar a 3 und a 6, er am Hofe Friedrich des Grossen gleich „extemporirte“ vor ihrer schriftlichen Festhaltung. – Analog zu Saids Fruchtbarmachung der Bach’schen Polyphonie ist zu fragen, inwiefern die chiastische Verschränkung der performativen Einheit Invention/ Improvisation einerseits und der verschriftlichten Einheit Elaboration/Text andererseits literarische Anschlussfähigkeit erlaubt: Verweist nicht oftmals das scheinbar „aus dem Stegreif“ Geschriebene auf sein Gegenteil, nämlich auf seine hochgradige Textualität, und das scheinbar Durchstrukturierte auf ihr Gegenteil, auf seine Performanz? Fiktion bemisst demnach die Aequidistanz zwischen präsentierter Darstellung und literarischem Verfahren. Legt Literatur ihren Grad von Hypothetisierung offen, gefährdet sie sich damit auch akut, wie das der Abbruch von Hölderlins Hymne „Wie wenn am Feiertage…“ eindrücklich belegt.

Bezug zum Netzwerk „Improvisation und Invention“: Gerade die Engführung von zwei fundamentalen Kulturtechniken, welche einander bedingen, erfordert einen Blick über literarische Fragestellungen hinaus in den intermedialen Bereich, um einschlägige Rückkopplungen allgemeiner Natur auf das Literarische differenziert festzuhalten. Dass die Begriffe Improvisation und Invention einer Fiktionalisierungsfunktion nicht nur im Literarischen unterliegen, sondern genuin den Techniken selber als solche entstammen, soll innerhalb dieses Netzwerks in einem grösseren Kontext belegt werden – was ich als einmalige Chance betrachte.

Begleitarbeiten und Projekte zum Thema: Der eigene Beitrag situiert sich im Rahmen meines grundsätzlichen Interesses am Zusammenspiel zwischen Literatur und historischer Musikpraxis. Die Nähe der Barockmusik zur Literatur ergibt sich aus der Affektenlehre, welche mich bereits während der Spezialisierung in Paris, aber auch neuerdings wiederum im Kontext eines Stimmungsprojekts stark beschäftigt. Zudem bin ich neben meinem Projekt in der interkulturellen Literaturwissenschaft gerade auch für die Intermedialität Musik–Literatur in Basel in dieser Assistenz angestellt und zuständig; ein Band zum entsprechenden Thema ist in Vorbereitung.