Jens Roselt
Regieeinfall


„Es beginnt vielmehr damit, daß uns etwas auffällt, einfällt, zufällt, zustößt. Blick– oder Gedankeneinfälle, die mir kommen, sind keine Akte, die ich vollziehe: Es fällt mir ein, es fällt mir auf, es springt ins Auge.“ 1

Mit dieser Beschreibung des Phänomenologen Bernhard Waldenfels kann der Begriff Einfall wörtlich verstanden werden. Einfälle sind demnach keine primär intentionalen, inneren, geistigen Vorgänge (die sekundär sprachlich, körperlich, künstlerisch ausgedrückt werden), sondern sie kommen zunächst von Außen, stoßen zu, drängen sich auf oder bleiben (leider) aus. Einfälle zu haben, hieße damit auch, einen Austausch zuzulassen und für ein Wechselverhältnis bereit zu sein. Schöpfungsmythen, die Geist und Idee zusammenrücken und als genialen Ursprung kreativer Prozesse auffassen, werden damit empfindlich tangiert, denn mit dem Außen werden vor allem die konkreten Situationen, die bestimmten räumlichen und zeitlichen Bedingungen konstitutiver Teil des Einfallsgeschehens. Aus der Sicht des Theaters ließe sich diese Auffassung pointieren, denn Theaterproben und das Improvisationstheater zielen genau darauf ab, Einfälle möglich zu machen. Auch wenn diese Prozesse – wie die Probenräume selbst – sich nach Außen abschotten, stellen sie doch den strukturellen Rahmen dafür dar, dass etwas einfallen kann. Die Probe kann dann nicht ausschließlich als kalkulierter Ablauf der planmäßigen Umsetzung vorgedachter Interpretationen und vorgefertigter Konzepte gelten, die durch Schauspieler oder Sänger zu sinnlicher Anschauung gebracht werden müssen. Die Kreativität der Probe erweist sich gerade in der Art und Weise, wie der Probenplan unterwandert oder überstiegen wird und Einfälle provoziert werden. Wenn zwischen Akteuren und Beobachtern etwas geschieht, womit keiner bei Probenbeginn gerechnet hatte, wenn etwas gefunden wird, was keiner ausdrücklich gesucht hatte, wenn Einfälle kommen, Bewegungen entstehen oder Interaktionen stattfinden, die noch nirgendwo notiert sind, dann erweist sich die Probe als kreativer Spielraum, als ein Ort für Probeerfahrungen, in dem die Konfrontation mit anderen Menschen und Materialien und dem eigenen Körper gesucht wird. Proben hieße damit auch, sich eigenen und fremden Einfällen auszusetzen.

  In einem Netzwerk „Improvisation und Invention“ kann die theaterwissenschaftliche Perspektive auf den Probenprozess und das Improvisationstheater die soziale mithin kollektive Dimension des Einfallsgeschehens thematisieren. In den Mittelpunkt rückt dabei der Begriff des Regieeinfalls, der für die Beschreibung und Analyse des neueren Theaters zentral ist. Untersucht werden sollen aber nicht einzelne Regieeinfälle im zeitgenössischen Theater, vielmehr wird sich das Projekt zwei Ziele setzen. Zum einen soll untersucht werden, wie der Begriff Regieeinfall zu Beginn des 20. Jahrhunderts überhaupt entstanden ist und welche Relevanz er für die konzeptionelle Beschreibung von Theater und die Wahrnehmung der Zuschauer hatte. Zum anderen ist zu fragen, ob die (Selbst–)Mythologisierung des Regisseurs als idealer Schöpferfigur durch die Probenpraxis und das zeitgenössische Theater nicht gerade dekonstruiert wird.

  Eine Vorarbeit hierzu war die Organisation und Durchführung der Tagung „Chaos und Konzept: Poetiken des Probierens im Theater“ vom 24. bis 26. April an der Universität Hildesheim.

 

1 Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, Frankfurt am Main 1999, S. 126.