Sylvia Sasse
Selbstverunsicherung
Nikolaj Evreinovs „Theater für sich selbst“


Die Provokation von Unsicherheit und Unkalkulierbarkeit kann – je nach Intention und Verlauf – sowohl Teil einer totalitären Machtstrategie als auch Kennzeichen einer Subversionspraxis sein bzw. werden. Als Machtstrategie zwingt sie den einzelnen zu einer permanenten, unfreiwilligen Improvisation. Stalins Terrorregime in den 30er Jahren ist dafür ein signifikantes Beispiel. Als Subversionspraxis zielt das Herstellen von Momenten der Unsicherheit eher gegen jene seit dem 19. Jahrhundert vermehrt auftretenden Forschungen und Umsetzungen der Berechenbarkeit und Determiniertheit des menschlichen Handelns. Dostoevskijs „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ (1864) lassen sich geradezu als Manifest der Untergrabung von menschlicher und semantischer Planbarkeit lesen.

  In meinem Aufsatzprojekt möchte ich mich mit Nikolaj Evreinovs um 1915 entwickelter Theorie des „Theaters für sich selbst“ beschäftigen, die Dostoevskijs Anliegen einer Bewahrung von Individualismus durch Ablehnung von Planbarkeit mit einem anderen ästhetischen Anspruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiterführt. Evreinov greift darin Elemente der Commedia dell’ arte auf und transformiert diese in eine zeitgenössische Theaterpraxis, die die Verfremdung des Alltags für jeden einzelnen ermöglichen soll. Evreinovs Anliegen ist es, mit Hilfe von Verfahren der „Deautomatisierung“ – vor dem Entwurf der Verfremdung im russischen Formalismus – unvorhersehbare Situationen zu schaffen, die den einzelnen aus seiner Gewohnheit und seinem Handlungsautomatismus heraushelfen sollen. Evreinov nennt sein Programm später auch „Theatertherapie“ und antizipiert mit seiner Idee das 1924 von Jakob Levy oder J.L. Moreno, wie sich Levy nannte, entwickelte Stegreiftheater, das bei Moreno 1935 zur Gründung des ersten Psychodrama-Theaters führt und zur Eröffnung der ersten psychodramatisch orientierten Klinik in Beacon (USA).

  Evreinov wendet sich mit seinem Entwurf einer improvisatorischen Theaterpraxis zunächst gegen das konventionelle Theater, das auf einem Text basiert und das ein Theater oder eine Bühne benötigt. Evreinovs Anliegen ist es vielmehr, das Leben, wie er es selbst nennt, zur Bühne zu machen. Auf der öffentlichen Bühne habe man die Möglichkeit, stets ein anderer zu sein, denn Theatralität bedinge auf der Bühne des Lebens das Schaffen neuer Formen des Lebens. Der Aufsatz beschäftigt sich mit Evreinovs Regieanleitungen, Spielentwürfen und literarischen Szenen zu einem improvisatorischen „Theater für sich selbst“ und will der Frage nachgehen, welchen Stellenwert Improvisation für das Theater und die Literatur der Avantgarde vor und nach der russischen Revolution hat.

Vor– und Begleitarbeiten zum Thema: Hauptseminar, HU Berlin, SoSe 2007: Improvisation. Texte und Theorien zum Unvorhersehbaren; Vortrag: „Selbstverunsicherung. Nikolaj Evreinov und Atom Egoyan“ auf der Konferenz „Improvisieren. Das Unvorhersehbare Tun“, FU Berlin 25.–26.4.2008; Buchprojekte: a) Hintertüren. Zu einer Poetik des Auswegs in der Literatur; b) Herausgabe der Schriften von Nikolaj Evreinov im Verlag Matthes&Seitz Berlin.