Martin Schneider
Intuition und Erzählung: Zu Wagners Opernreform
Anhand einer Analyse des Fliegenden Holländers, Lohengrin und Die Walküre.


Inhalt: Das Projekt untersucht, wie sich Wagners Reform des Musiktheaters aus dem Verhältnis von plötzlichem Einfall und deutender Erzählung beschreiben lässt. Dabei wird der Weg von der noch konventionellen Oper Der fliegende Holländer bis zum Musikdrama Der Ring des Nibelungen als eine zunehmende Reflexion des unvermittelten Einfalls gedeutet. Zentral ist dabei die Frage, welche Rolle dabei dem Zusammenspiel von Wort (Erzählung), Bild und Musik zukommt.

  Ausgehend von Sentas Ballade in Der fliegende Holländer soll gezeigt werden, wie Wagner die ekstatische Inspiration Sentas aus epischer Kontemplation hervorgehen lässt und die überlieferten Formen der Gattung Oper dabei durchbrochen werden. Nachdem Senta in ihrer Ballade das Porträtbild des Holländers singend deutet und ihm so eine Geschichte verleiht, bricht sie die unvermittelt Ballade ab, als sie den Holländer in realiter erblickt: Ihr durch die Erzählung vorbereitetes Déjà–vu ist in Wahrheit ein Imprévu, ein plötzlicher Einfall.

  Wagners Versuch, im Fliegenden Holländer die blitzhafte Erkenntnis konsequent aus dem Geist der Erzählung entspringen zu lassen, ist in der Geschichte der Oper ein Novum. Die musikalischen Erzählungen, die Wagner im Holländer zu formen beginnt, heben die Quadratur des Tonsatzes auf, weil sie auf die Bewusstwerdung des Einfalls zielen. In den folgenden Opern versucht Wagner dann zunehmend, diese mit der Plötzlichkeit des Einfalls verbundene Schockhaftigkeit der Subjektkonstitution durch Vermittlung abzufedern. Dies gelingt zum einen durch das Wort, da die Erzählung die nun den Einfall nicht mehr nur vorbereitet, sondern auch verarbeitet. Das blitzhafte Imprévu des Liebesaugenblicks wird von den Figuren, etwa im ersten Akt der Walküre, im Laufe der Handlung reflektiert und in eine Erzählung gegossen. Zum anderen gelingt es durch die Musik, die bereits in Lohengrin, deren Leitmotive den plötzlichen Einfall in eine Aktualisierung der Vergangenheit umzudeuten.

Bezug zur Thematik des Netzwerkes: Der Beitrag zur Arbeit des Forschungsnetzwerkes ist ein zweifacher: zum einen die Analyse der gattungsspezifischen Funktionsweise der Produktion und Verarbeitung von Einfällen innerhalb des Musiktheaters sowie, zweitens, die Untersuchung der theoretischen Voraussetzungen dieser intermedialen Inventionsdarstellung. Wie müssen Wort, Bild und Musik aufeinander bezogen bzw. voneinander abgegrenzt werden, damit die Produktion und Speicherung des Einfalls gelingt? Die methodische Herangehensweise ist dabei interdisziplinär: Literatur–, kultur– und musikwissenschaftliche Fragestellungen werden konsequent aufeinander bezogen.

Begleitarbeiten: Das Projekt wird eingerahmt und begleitet von einem Dissertationsvorhaben über „Die Konzeption des Unbewussten in Richard Wagners Musikdramen“ an der LMU München. Diese Arbeit untersucht die anthropologischen Voraussetzungen von Wagners Werk in der Romantik und Wagners Verarbeitung des zeitgenössischen psychiatrischen Diskurses. Analysiert werden dabei im Einzelnen die Funktion von Erzählszenen bei Wagner, die Rolle des Blicks in seinen Musikdramen sowie Wagners Gedächtnisbegriff.